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Schreckgespenst –  Klassentreffen
Feier zum Schulabschluss

Man sitzt nichtsahnend vor dem Fernseher – und folge gerade Joko dabei, wie er im Stande ist, seine Show zu verlieren, als ich eine WhatsApp bekomme. Prinzipiell nichts Besonderes, aber nach Feierabend gucke ich eigentlich ungern auf mein Handy. Außerdem klang das Handy schon etwas unheilvoll. Ich kann es nicht beschreiben, es ist einfach eine böse Vorahnung. Während ich mir genüsslich mein wohlverdientes Stück Schokolade in den Mund stecken will, gucke ich auf mein Handy. Das Blut gefriert mir in den Adern, das Stück Schokolade fällt mir aus der Hand und ich merke, wie mein Mund offenstehen bleibt. Mein Mann guckt mich verschreckt an und fragte, was los sei. Ich bekomme nur raus: "Ich muss 20 Kilo abnehmen und mein Leben pimpen!"

Etwas abnehmen - nur so 20 Kilo

Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Es ist eine Einladung zu einer Whatsapp-Gruppe namens „Klassentreffen“. Warum dies nun so aus heiterem Himmel passieren muss, ohne irgendeinem Jubiläum weiß nur der Missetäter, der auf diese Idee gekommen ist. Nun ja, ich nehme die Einladung an, denn täte ich dies nicht, würden Spekulationen losgetreten, warum ich mich raushalte, was nicht stimmen würde … und überhaupt. Es würde über mich geredet werden und das mag ich nicht. Ich schaue an mir herunter und muss zugeben: In der Form meines Lebens bin ich nicht gerade. Vor dem Fernseher sitzend, Schokolade und Chips vor mir mit Haaren, die ... naja, ein bisschen nach Homeoffice aussehen (der Vor- oder Nachteil, wenn man die meiste Zeit im Homeoffice ist). Da sind wir also bei den offensichtlichen Problemen: Ich muss DRINGEND ein paar Kilo abnehmen. Also nur ein bisschen - so etwa um die 20 bis 30 Kilo. Das Treffen findet in drei Monaten statt … machbar? Mit der klassischen No-Food Diät sollte es funktionieren.

Punkten kann ich aber doch, denn ich bin mit zwei wirklich süßen Jungs gesegnet. Wie ich das zustande bekommen habe, weiß ich auch nicht. Aber da hat man ja keinen Einfluss drauf. Entweder sie sind süße Engel oder fiese Kröten … das liegt nicht in unserer Hand - manchmal aber im Auge des Betrachters. Also, Fotos mitnehmen, schon mal sehr wichtig. Man sieht ja nicht, was für kleine Tyrannen sie in Wirklichkeit sein können.

Die Hölle eines jeden Fotografen

Etwas neugierig bin allerdings auch ich. Ich schaue mir die Profilbilder an. Fast alle haben die perfekten Familienfotos im Status. Entweder im Skiurlaub oder am Strand irgendwo unter Palmen. Ich habe unsere Katzen im Status, erstens sind sie echt süß. Zweitens möchte ich meine Kinder nicht so öffentlich präsentieren und drittens gibt es kein Familienbild von uns. Also anders: Es gibt Fotos von uns, aber bei dem einen haut mich der Kleine gerade, bei dem anderen streckt der Große die Zunge raus, alles verwackelt etc. Es ist unmöglich ein perfektes Foto hinzubekommen. Klar, mit Fotobearbeitung ist es dann doch noch möglich den Kopf vom einen Foto ins andere zu retuschieren, aber trotzdem: Die Fotografin tat mir damals sehr leid und falls wir nochmals einen Versuch starten wollen würden, dann sollten wir ein anderes Fotostudio aussuchen, denn ich glaube nicht, dass sie uns nochmals die Tür aufmachen würde.

Das Landei aus dem Hinterwald

Aber zurück zum Thema: die ersten melden sich zu Wort. Eine sagt: „Ich kann nur spontan Bescheid geben, da ich nicht weiß, wo ich zu dem Zeitpunkt hinfliegen muss. Kann man das nicht mit Ostern verbinden? Da sind die meisten eh in der Heimat. Nicht jeder hockt im Ort. Ich wohne zurzeit in London.“ Bäm. Der saß. Voll ins Schwarze getroffen. Gleich mehrmals. Sie fliegt also mal eben in der Weltgeschichte rum und wohnt in London City? Wow. Und dann der kleine Seitenhieb an alle Landeier wie mich. Ich muss dazu sagen ich bin nach einigen Jahren Flucht wieder in meinem Heimatort gestrandet. Ich wollte es nie, aber das Schicksal hat uns hergeführt. Aber ist daran etwas verwerflich? Bin ich jetzt Hinterwäldler? Nichtsahnend, altmodisch oder gar dumm? Oh, da kommt eine Antwort auf die Vielfliegerin: „Es muss auch mal so klappen, ich wohne auch über 600 Kilometer weit weg und würde natürlich trotzdem kommen.“ Ok, wieder jemand, der weit weggekommen ist und von ihm weiß ich, dass er Geschäftsführer einer großen Firma ist. Ist es bitte möglich in drei Monaten noch eine steile Karriere hinzulegen? Mein Gott, ich fühle mich wie eine Karikatur von Bridget Jones, die an sich ja schon eine Karikatur ihrer selbst ist

Wo bitte ist der nächste Topf Bowle?

Nun gibt es drei Szenarien: Ich gehe nicht hin – einfachstes Szenario, aber führt zu Spekulationen über mich. Irgendwie doof. Nächste und für mich wahrscheinlichste Möglichkeit: Ich gehe hin und blamiere mich bis auf die Knochen, denn alle haben den perfekten Job, die perfekte Familie und sehen perfekt aus. In dem Fall hoffe ich auf einen riesigen Topf Bowle in dem ich mich ertränken kann, was jetzt auch eher suboptimal wäre. Oder, was das Unwahrscheinlichste ist: mit dem Alkoholpegel bricht auch die Fassade und am Ende liegen wir uns alle betrunken in den Armen, tanzen den "Time Warp" und helfen uns am frühen Morgen zu den Toiletten. Nicht glorreich, aber trotzdem erstrebenswerteste Variante. Ich würde gerne sagen, dass mir das ganze Getue egal ist. Ist es mir aber nicht. Sollte es aber, denn bevor ich ärger bekomme: Ja, es gibt unglaublich wichtigere Dinge im Leben, als das, was Menschen über dich denken könnten. "Lass die Leute reden und hör ihnen nicht zu. Die meisten Leute haben ja nichts Besseres zu tun.", wie die Ärzte schon sangen. Es ist traurig, aber nun sitze ich hier wie ein kleines Kind, welches dabei ertappt wurde, wie es ungefragt Süßkram gefuttert hat (und dementsprechend aussieht). Aber hey, ich habe eine großartige Familie und ich liebe meinen Job und all die Menschen, die ich dadurch kennen lernen darf. Auch wenn mein Leben eher durchschnittlich ist. Ich liebe meine Durchschnittlichkeit! Und genau das ist vielleicht meine Stärke! Klassentreffen – ich bin dabei!!

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